Ein Feature von Lili Fox | Titelbild (Beklebte Tür der LIESELLE): Lili Fox
Ein kleiner Raum am Ende des gelb-grauen GA-Gebäudes, die Tür geschmückt mit bunten Stickern: Auf den ersten Blick wirkt die LIESELLE wie eine enge, unscheinbare Bibliothek. Doch dieser Ort auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum bewahrt tausende feministische und queere Stimmen – Werke, die sonst vielleicht vergessen worden wären. Hier kommen Studentinnen, Aktivistinnen und Forscherinnen zusammen, um nicht nur archivarisch zu arbeiten, sondern auch politische Diskurse mitzuformen. Das stellt das Archiv jedoch auch vor Herausforderungen: Die Zukunftssicherung, die Digitalisierung und die fortlaufende Anpassung an feministische Diskurse sind zentrale Fragen, die die Mitarbeiterinnen beschäftigen.

Ein Archiv aus einer Lücke heraus geboren
Es beginnt mit Frust. 1977: Die neue Frauenbewegung ist bereits in vollem Gange und auch in den Gängen der Ruhr-Universität Bochum herrscht Unruhe. Eine Gruppe Geschichtsstudentinnen befasst sich mit einem Seminar zur Hexenverfolgung und erkennt: Die Darstellung ist männlich geprägt, die Perspektiven von Frauen fehlen fast vollständig – und das auch in vielen anderen Bereichen. Aus dieser Lücke heraus gründen die Studentinnen eine Forschungsgruppe, um feministische Perspektiven und Frauengeschichte zu dokumentieren. Ein Jahr später folgt das Archiv, das später zur LIESELLE wird.
Ursprünglich als Frauenarchiv ins Leben gerufen und bezeichnet, entschied sich das Team 2023 für eine Umbenennung: QueerFeministische Bibliothek und Archiv LIESELLE. Begüm K. erklärt: „Wir reflektieren regelmäßig, wen wir übersehen haben und wen wir einbeziehen müssen“. Auch Begüm hat an der Ruhr-Universität unter anderem Geschichte im Bachelor studiert und ist eine von aktuell fünf Studentinnen, die in der LIESELLE tätig sind. Mittlerweile studiert sie Arabistik und Islamwissenschaft sowie vergleichende Literaturwissenschaft im Master. Begüm betont: „Die LIESELLE geht mit den Diskursen mit – die Umbenennung war eine bewusste Entscheidung, um sich klar gegen trans-exklusive feministische Strömungen zu positionieren und queere Perspektiven sichtbarer zu machen.“

Ein bewegtes Archiv für bewegte Geschichte
Seit ihren Anfängen hat die Sammlung stetig an Umfang und Bedeutung zugenommen. Heute umfasst sie mehr als 11.000 Werke: historische Zeitschriften der autonomen Frauen*Lesbenbewegung, künstlerische Arbeiten, wissenschaftliche Arbeiten, Flugblätter, Veranstaltungsankündigungen und ein einzigartiges Lateinamerika-Archiv. Besonders bemerkenswert ist das FrauenLesbenRadio Funk’n Flug, eine digitalisierte Sammlung von 46 Audiokassetten aus den 1990er Jahren – ein akustisches Zeugnis der lesbischen Bewegung im Ruhrgebiet.
Einige Bestände sind besonders persönlich: Buchschenkungen stammen teilweise von Bekannten der Gründerinnen, die ihre eigenen Sammlungen an die LIESELLE weitergegeben haben. Für Begüm zeichnet diese Besonderheit die Dynamik der LIESELLE aus.
Ein Ort für Forschung, Aktivismus und Austausch
Die LIESELLE ist nicht nur Archiv, sondern auch ein politischer Raum, ein Ort für gelebte Bewegungsgeschichte und ein Spiegel der feministischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte. Wer sich mit queer*feministischen Themen beschäftigen will, findet hier nicht nur Bücher, sondern auch lebendige Geschichte und Menschen, die feministisches Wissen bewahren und weitertragen.
Kooperationen mit dem atelier automatique oder der Oval Office Bar des Schauspielhaus Bochum bringen Archivmaterial in Ausstellungen und öffentliche Veranstaltungen ein. „Es ist uns wichtig, dass unser Archiv nicht nur als Lager verstanden wird“, sagt Begüm, „Es soll genutzt werden“. Die ständige Weiterentwicklung der LIESELLE beinhaltet außerdem das Sammeln von aktuellen Forschungsarbeiten und Literatur, die der Thematik neue Perspektiven verleihen – so können beispielsweise auch Abschlussarbeiten von Student*innen zur Erweiterung beitragen.

Zukunftspläne und Herausforderungen
Ein Problem bleibt die langfristige institutionelle und finanzielle Absicherung. Die LIESELLE wird als Projekt des AStA geführt – von Studentinnen, die oft nur einige Jahre dabei sein können. „Wissenstransfer ist eine ständige Herausforderung“, erzählt Begüm. Auch spiegelt sich diese Dynamik in den Öffnungszeiten der LIESELLE wider: Sie ändern sich jedes Semester, da sie an die Stundenpläne der Studentinnen angepasst werden, die hier arbeiten. In der vorlesungsfreien Zeit erfolgt der Zugang per Terminvergabe, damit die Bestände trotz reduzierter Ressourcen zugänglich bleiben.
Ein damit einhergehendes Ziel: mehr Digitalisierung – mehr Zugänglichkeit. Der Bestand ist nicht in klassische Bibliothekskataloge integriert, sondern über den META-Katalog des Dachverband deutschsprachiger Frauen / Lesbenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen (i.d.a. Dachverband) auffindbar.

„Unsere Archivierung unterscheidet sich von klassischen Kategorisierungssystemen“, so Begüm, „Wir setzen Schwerpunkte, die in klassischen Archiven oft untergehen“. Projekte zur Digitalisierung, etwa über das Digitale Deutsche Frauenarchiv (DDF), ermöglichen erste Schritte, doch ganzheitliche Lösungen fehlen bislang.
Mehr Digitalisierung des Archivs würde außerdem mehr Schutz für die physischen, teils einzigartigen Bestände bedeuten. Eine Herausforderung benennt Begüm klar: „Wie archiviert und digitalisiert man Materialien, die über klassische Bücher hinausgehen, etwa persönliche Notizen, handgeschriebene Kataloge oder künstlerische Arbeiten?“
Ein Ort, der Geschichten bewahrt – und weiterschreibt
Derzeit wird die LIESELLE hauptsächlich von Studentinnen und Künstlerinnen genutzt, aber sie steht allen offen. Für die Nutzung sind lediglich eine E-Mail-Adresse und ein Name zu hinterlegen. Die Kontaktaufnahme kann unkompliziert über Instagram oder die Website erfolgen. Die Mitarbeiterinnen unterstützen zudem gerne bei der Literatursuche. Wer Material zu spezifischen queerfeministischen Themen benötigt, kann sich an sie wenden – sie helfen aktiv bei der Recherche in den Beständen.
Als Literaturempfehlung für Einsteigerinnen nennt Begüm „We Are Everywhere: Protest, Power, and Pride in the History of Queer Liberation“ sowie den neu erschienenen Sammelband „Aktivistinnen im Archiv. Von den Anfängen der Frauenforschung bis zu queeren Interventionen“, herausgegeben von Katja Teichmann, die selbst seit 2014 in der Queer*Feministischen Bibliothek und Archiv LIESELLE engagiert ist. Ein Werk, das Einblicke in feministische Archivarbeit bietet und verdeutlicht, warum es Räume wie die LIESELLE auch in Zukunft braucht.
LINKS:
- Website & Themenbereiche in denen die LIESELLE ihre Bestände erweitern möchte
- META-Katalog des i.d.a. Dachverbands
Quelle: Interview mit Begüm K.