Let’s get physical – RUB lädt zu Physikvorträgen in die Kirche ein

Eine Reportage von Jolina Rohland | Titelbild: SMP-Flyer der Fakultät für Physik und Astronomie, Bild © David Walls, via Canva.com

Mathematik, Physik, Chemie – für viele Schüler*innen die Dreifaltigkeit der Langeweile. Aber muss das so sein? Wie spannend Naturwissenschaften sein können, beweist die RUB in den Saturday Morning Physics.

Von verstaubten Hörsälen in die Bochumer Innenstadt

Es ist der Morgen des achten Februars, ein Samstag. In der Grabenstraße herrscht bereits reges Treiben. Dort, versteckt zwischen Geschäften und Cafés, mein Ziel: die Pauluskirche, derzeitiger Veranstaltungsort der Vortragsreihe Saturday Morning Physics (kurz SMP).

In Anlehnung an das gleichnamige, bereits 1995 debütierende Projekt der University of Michigan, sind Physikinteressierte jeden Alters und Kenntnisstandes zu humoristischen Vorträgen und faszinierenden Experimenten eingeladen. Sie finden in den Wintersemestern in unregelmäßigen Abständen samstagmorgens statt, die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung nicht erforderlich.

Wenn sie nicht zur Physik kommen, kommt die Physik eben zu ihnen: Mit der Pauluskirche hat die RUB einen zentralen Veranstaltungsort gefunden. (Foto: Jolina Rohland)

Empfangen werde ich vom Duft frischer Waffeln und Kaffee, die von Freiwilligen aus der Fachschaft Physik vor Beginn verkauft werden. Ich habe Glück, noch einen Sitzplatz zu ergattern; fast 200 Menschen haben sich in der kleinen Kirche eingefunden – mehr als in den meisten Physikvorlesungen, die ich bisher besuchen durfte.

Kein Widerspruch: Kirche und Wissenschaft in perfekter Symbiose (Foto: Jolina Rohland)

„Das ist ja genau das, was wir wollen. Also Physik sozusagen unter die Leute bringen“, sagt Cinja Bösel, Zuständige für Öffentlichkeitsarbeit und Studiengangsmarketing für die Fakultät für Physik und Astronomie an der RUB. Daher finde sie es auch „total schön“, nun mit der Pauluskirche einen so zentralen Veranstaltungsort zu haben. Dass dazu nicht mehr die Hörsäle der Universität genutzt werden, sei zwar Energiesparmaßnahmen geschuldet, könne aber auch eine Chance sein, Menschen zu erreichen, „die sonst vielleicht nicht den Weg zur Uni gefunden hätten“.

Eine Kirche als Physikhörsaal?

Wo sonst Glaube und Spiritualität gepredigt werden, wird nun den Rätseln des Universums auf den Grund gegangen. Formeln statt Psalmen. Das mag manch einem erst einmal widersprüchlich erscheinen. Pfarrer Constantin Decker sieht das anders: „Ich persönlich glaube, dass meine Religion, mein Glaube sich schon immer nach den Geheimnissen des Universums gesehnt hat.“ Daher freue es ihn, wenn man diesen Geheimnissen nun in „seiner“ Kirche auch aus naturwissenschaftlicher Sicht nachgeht.

Ein Jahr zu Ehren der Quantenwissenschaft

Einem dieser Geheimnisse kommt Werner Heisenberg 1925 auf die Spur. Bereits 1900 legt Max Planck unwissend den Grundstein für eine neue Physik, die alles infrage stellen sollte, was man zu wissen glaubte: Die Quantenphysik. Nur 25 Jahre später gelingt Heisenberg mit der heisenberg’schen Matrizenmechanik erstmals eine mathematische Beschreibung der Quantenmechanik und ebnet so den Weg etwa für Quantencomputer und -kryptographie, aber auch alltäglichere Technologien wie die Magnetresonanztomographie (kurz MRT).

Zum 100-jährigen Jubiläum dieser historischen Errungenschaft erklärte die Generalkonferenz der Vereinten Nationen 2025 zum internationalen Jahr der Quantenwissenschaft und -technologie. Aus diesem Anlass beleuchten alle vier SMP-Vorträge des Wintersemesters 2024/25 verschiedene Aspekte der Quantenphysik.

Prof. Dr. Heiko Krabbe und Dr. Marco Seiter, beide Lehrstuhl für Didaktik der Physik an der RUB, begrüßen ihr Publikum zu ihrem Vortrag Die wunderbare Welt der Quantenphysik – Experimente mit Photonen.

Und es ward Licht

Quantenphysik ist komplex. Das stellt die Referenten in diesem Semester vor eine besondere Herausforderung, sollen die Vorträge doch für jeden verständlich sein. Experimente können Teil der Lösung sein.

Der Quantenkoffer – ein eher unscheinbares Gerät, das unsichtbare Wunder birgt: Vor den Augen des Publikums lässt Dr. Seiter einzelne Photonenpaare entstehen, mithilfe von Polarisationsfiltern will er ihre Verschränkung beweisen. Ein Phänomen, das mit aller Alltagserfahrung bricht.

Was bei den einen Faszination auslöst, stößt bei anderen auf Zweifel. Denn außer ein paar Messwerten bekommen wir nicht wirklich etwas zu sehen, ein Leiden vieler quantenphysikalischer Experimente. Skeptikern aus dem Publikum entgegnet Krabbe: „Ich muss an das Messgerät glauben.“ Ich muss schmunzeln: Wo, wenn nicht in einer Kirche?

Ziel erreicht

„Sie sind heute sozusagen mein Klassenzimmer.“ Mit diesen Worten leitet Prof. Dr. Krabbe in seinen Vortrag ein. Und tatsächlich erinnert mich dieser an eine klassische Vorlesung. Doch die Atmosphäre ist eine andere.

Es ist mucksmäuschenstill im Saal. In einer Vorlesung hätte das wahrscheinlich bedeutet, dass die meisten eingeschlafen sind. Aber hier nicht. Der frühen Uhrzeit zum Trotz (11 Uhr, das ist doch keine Uhrzeit!) hören die Anwesenden gebannt zu. Und das steckt an. Es macht eben einen Unterschied, ob die Menschen um einen herum tatsächlich von Neugier gefesselt sind oder ihnen lediglich die Verpflichtung im Nacken sitzt und sie erst aufhorchen, wenn das Wort klausurrelevant fällt.

Darüber, woran es liegt, dass nur wenige Schüler*innen die Vorträge besuchen – das Durchschnittsalter schätze ich heute auf 70+ –, ließe sich nur spekulieren. Doch auch wenn man es sicherlich begrüßen würde, insbesondere Jüngere für Physik zu begeistern und vielleicht sogar zu einem Studium an der RUB zu motivieren, ist das Ziel der Veranstaltung nicht verfehlt.

Man wolle „in die Gesellschaft wirken“ und „die Dinge, die man macht, der Gesellschaft zur Verfügung stellen“, erklärt Prof. Dr. Krabbe. Die sogenannte Third Mission der Universitäten, nämlich der Dialog mit Gesellschaft und Wirtschaft als dritte Kernaufgabe (neben Lehre und Forschung), gewinne zunehmend an Bedeutung. Dabei richte man sich nicht allein an Schüler*innen. Für diese gebe es jede Menge andere Angebote, etwa das Schülerlabor.

Zurück nach der Sommerpause

Wessen Interesse geweckt ist, wird sich bis zum Wintersemester 2025/26 gedulden müssen. Ab Oktober 2025 entführt die RUB dann wieder in eine Welt kleinster Teilchen und großer Wunder.

Genauere Informationen dazu werden dann hier zu finden sein. Wer nicht so lange warten möchte, findet hier weitere Veranstaltungen der Fakultät für Physik und Astronomie.

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Für mehr Stärke, Selbstbewusstsein und Sicherheit im Alltag – Der Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurs für Frauen der RUB

Eine Reportage von Leonie Marie Lempa | Titelbild: Leonie Marie Lempa

Neben der Notfallnummer, dem Begleitschutz und der ganztägigen Präsenz des Sicherheitsdienstes gibt es zahlreiche andere Sicherheitsmaßnahmen und Angebote der Ruhr-Universität Bochum, die zur Sicherheit am Campus beitragen. Bei einem dieser Angebote handelt es sich um den vom Hochschulsport angebotenen Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurs für Frauen. Hast du noch nie von diesem Angebot gehört? Kennst du den Kurs, bist dir aber noch unsicher, ob du ihn belegen solltest? Hast du Angst vor dem Ablauf, dem Inhalt und dem Unbekannten? Damit bist du nicht allein.

Müde Teilnehmerinnen und muntere Übungsleiter:innen

Als ich mich am Sonntag frühmorgens aus dem Bett quäle, um nach Bochum zu pendeln, weiß ich nicht, was auf mich zukommen wird. Und hätte ich mir nicht in den Kopf gesetzt, einen Bericht über den Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurs für Frauen der RUB zu schreiben, dann wäre ich wahrscheinlich auch zuhause geblieben. Sechs Stunden mit unbekannten Frauen in einer fremden Umgebung oder noch ein paar Stunden länger in einer warmen Decke eingekuschelt schlafen. Letzteres klingt in meinem halb verschlafenen Zustand deutlich verlockender, wenn auch nur bis zum Betreten des Übungsraums.

Mit strahlenden Gesichtern und freundlichen Stimmen begrüßen uns die drei Übungsleiter:innen, die im Gegensatz zu uns Teilnehmerinnen wach und munter aussehen. Seit 2019 leitet der 68-jährige Wolfram M. Walter den Kurs, der an zehn bis zwölf Sonntagen im Jahr im Übungsraum Zwei des Unifit angeboten wird. Dabei handelt es sich um das Fitnessstudio, das vom Hochschulsport betrieben wird und von Student:innen und Mitarbeiter:innen der RUB kostenpflichtig genutzt werden kann. Unterstützt wird Übungsleiter Walter von je zwei Mitgliedern des Takemusu Aikido Bochum e.V., in dem Walter Trainer ist. Für den Fall, dass eine der Teilnehmerinnen nicht mit Männern üben will oder kann, ist ein weibliches Mitglied des Vereins anwesend. Diesen personellen Aufwand würde das Team nicht aus finanzieller Absicht betreiben, erklärt Andreas Thehos, der sich die Leitung mit Walter teilt und den Kurs zukünftig übernehmen wird. Vielmehr täten die Vereinsmitglieder es aus dem Glauben heraus, das Richtige zu tun.

Die Mitglieder des Takemusu Aikido Bochum e.V. unter der Leitung von Wolfram M. Walter (oben rechts) und Andreas Thehos (unten rechts). | Foto: Andreas Thehos

Ein sicherer und einfacher Einstieg?

Bild: Heylizart (Pixabay)

Nach der Begrüßung durch die Übungsleiter:innen stellen wir Teilnehmerinnen uns vor. Im Kreis aufgestellt blicken wir uns alle an. Wir unterscheiden uns in unserem Aussehen und Verhalten, der Persönlichkeit, den Interessen und soziokulturellen Merkmalen. Unsere Geburtsjahre liegen manchmal sehr weit auseinander und zwei von uns sprechen lediglich Englisch. Die meisten von uns sind Studentinnen wie ich. Andere sind Mitarbeiterinnen und Alumni der RUB, einige wenige stehen in keiner Beziehung zur Universität. Vielleicht ist es gerade diese weibliche Diversität, die mich sicher und geschützt fühlen lässt.

Auch wenn dieses Gefühl der Sicherheit mich zunächst nicht davor bewahren kann, aus der Komfortzone gerissen zu werden. Aber würdest du dich wohl fühlen? Könntest du von jemandem fordern, den Abstand einzuhalten und deine Aussagen so bedacht formulieren, dass sie eine Provokation und Eskalation vermeiden und gleichzeitig keinen Interpretationsspielraum lassen? Könntest du deine Stimme erheben und im Notfall schreien? Ich kann es nicht. Ich finde es schwierig, meine Gedanken in Worte zu fassen, meine Grenzen zu kommunizieren und laut zu werden. Auch in Situationen, in denen mir jemand unangenehm nahekommt. Zu nah. Bald ist es vorbei, bloß keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Altbekannte Gedanken rasen in meinem Kopf umher, mein Körper ist wie festgefroren. Und nicht nur mir geht es so. Die meisten Teilnehmerinnen fühlen sich zunächst unwohl mit den Übungen, die genau diese übergriffigen Situationen simulieren. Sie brauchen zu lange, um die richtigen Worte zu finden und verhaspeln sich. Sie sind zu leise und ihre Körperhaltung gebückt, fast schon unterwürfig. Gebunden an soziale Normen fallen ihnen, ebenso wie auch mir, all diese Dinge schwer. Und das, obwohl die eben genannten präventiven Verhaltensweisen laut Übungsleiter Walter 99% der Selbstverteidigung ausmachen. Konfrontation hingegen lediglich 1%.

Ausgelassene Stimmung und steigendes Selbstbewusstsein

Andreas Thehos | Foto: Andreas Thehos

Mit dem Voranschreiten des Stundenzeigers wird unsere Haltung immer besser, unsere Stimmen lauter und wir selbstbewusster. In den zahlreichen Pausen unterhalten wir uns ausgelassen miteinander, tauschen Erfahrungen aus, gehen gemeinsam zum Backwerk im Hauptbahnhof Bochum und ich versuche mich sogar auf Englisch zu unterhalten. Ein eher kläglicher Versuch meinerseits, über den ich heute nur noch schmunzelnd den Kopf schütteln kann. Die Stimmung ist ausgelassen, trotz der schwerwiegenden Thematik und vermag es, die Sichtweise der Übungsleiter:innen abzubilden. Denn Andreas Thehos und Wolfram M. Walter wollen uns nicht paranoid machen. Sie wollen uns lediglich dafür sensibilisieren, „die Augen auf zu haben und achtsam zu sein, nicht zu leichtfertig, aber auch nicht zu ängstlich zu sein“, fasst Übungsleiter Thehos zusammen.

Nichtsdestotrotz werden nicht nur präventive Maßnahmen vermittelt. Was kannst du tun, wenn der potentielle Angreifer sich nicht abschrecken lässt? Mehr als du denkst und mehr als ich mir zunächst bewusst gewesen bin. Den Körper beschweren, sich befreien, mit dem Ellbogen stoßen, schlagen, treten. Die Möglichkeiten erscheinen uns unendlich, denn in Notsituationen sei alles erlaubt, sagt Übungsleiter Thehos. Die Übungsleiter:innen vermitteln uns eine Kombination aus Techniken der japanischen Kampfkunst Aikido und effektiven Selbstverteidigungstechniken. Das Erlernte entfaltet bereits während der Durchführung große Wirkung. Wir Teilnehmerinnen werden selbstbewusster, je mehr wir über unsere weibliche Stärke lernen. Stärke, die ich zu Beginn des Kurses nicht in mir gesehen habe, derer ich mir nicht bewusst gewesen bin. Ich habe kaum Muskeln und bin mit meinen 1.66m auch nicht gerade groß. Aber mit jeder Befreiungstechnik, die wir erlernen, jedem Schlag, den wir üben, habe ich das Gefühl, immer kräftiger und größer zu werden. In diesem großen fensterlosen Raum, der mit dreizehn Frauen, drei Übungsleiter:innen und so viel Lachen und Wärme gefüllt ist, habe ich das Gefühl, unbesiegbar zu sein.

Der Übungsraum Zwei im Fitnessstudio
Unifit. | Fotos: Leonie Marie Lempa

Ich fühle mich stark. Ich fühle mich sicher.

Warum du teilnehmen solltest!

In den sechs Stunden habe ich erfahren, dass ich nicht hilflos bin. Neben den rechtlichen Grundlagen zur Notwehr habe ich gelernt, dass wir Frauen mit relativ schnell erlernbaren Techniken eine hohe Wirkung erzielen können. Und das überwiegend nur durch das leichte Drehen und Bewegen meines eigenen Körpers. Werde ich den Kurs in ein paar Monaten nochmal besuchen? Definitiv. Denn die kurze Zeit hat mich noch lange nicht zu einer Meisterin in der Selbstbehauptung und -verteidigung werden lassen. Wie auch viele andere Teilnehmerinnen werde ich den Kurs wiederholen, um die erlernten Techniken aufzufrischen. Auch wenn ich schon jetzt das Gefühl habe, im Moment der Bedrängnis und des Unwohlseins angemessener reagieren zu können als vor meiner Teilnahme.

Ich möchte nie wieder in Schockstarre verfallen und stärker, mutiger und selbstbewusster in meinem Alltag auftreten. Und du?

Du bist interessiert?

Dann buch den Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurs doch direkt auf der Website des Hochschulsport Bochums.

Termin: An einem Sonntag, von 10 bis 16 Uhr. Das genaue Datum kannst du der Website entnehmen.

Ort: Im Fitnessstudio Unifit
Massenbergstraße 9-13
44787 Bochum

Kosten:
10€ für Studierende
15€ für Beschäftigte
20€ für Alumni
30€ für Externe

Hinweis: Die Buchung ist lediglich für weibliche Teilnehmerinnen möglich.

Das Fitnessstudio Unifit des Hochschulsports, das von RUB- Angehörigen genutzt werden kann. | Foto: Leonie Marie Lempa

Bei Nachfragen und Anfragen rund um den Kurs kannst du dich über die E-Mail thehos@at-training.de auch direkt an den Übungsleiter Andreas Thehos wenden.

Kennst du schon die anderen Sicherheitsmaßnahmen der RUB?

  • Notfallnummer (+49 234 322 3333)
  • Begleitschutz (+49 234 3227001)
  • Sicherheitsdienst
  • Frauenparkplätze unter dem SSC-Gebäude
  • Antisexismus-Projekt „Unser Campus“
  • Campus-Begehungen
  • Gewaltpräventionskurse der RUB
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60 Jahre Ruhr-Universität Bochum – 48 Jahre Queer*Feministische Bibliothek und Archiv LIESELLE

Ein Feature von Lili Fox | Titelbild (Beklebte Tür der LIESELLE): Lili Fox

Ein kleiner Raum am Ende des gelb-grauen GA-Gebäudes, die Tür geschmückt mit bunten Stickern: Auf den ersten Blick wirkt die LIESELLE wie eine enge, unscheinbare Bibliothek. Doch dieser Ort auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum bewahrt tausende feministische und queere Stimmen – Werke, die sonst vielleicht vergessen worden wären. Hier kommen StudentInnen, Aktivistinnen und Forscherinnen zusammen, um nicht nur archivarisch zu arbeiten, sondern auch politische Diskurse mitzuformen. Das stellt das Archiv jedoch auch vor Herausforderungen: Die Zukunftssicherung, die Digitalisierung und die fortlaufende Anpassung an feministische Diskurse sind zentrale Fragen, die die MitarbeiterInnen beschäftigen.

Eingang der LIESELLE: GA 02/60 (Foto: Lili Fox)

Ein Archiv aus einer Lücke heraus geboren

Es beginnt mit Frust. 1977: Die neue Frauenbewegung ist bereits in vollem Gange und auch in den Gängen der Ruhr-Universität Bochum herrscht Unruhe. Eine Gruppe Geschichtsstudentinnen befasst sich mit einem Seminar zur Hexenverfolgung und erkennt: Die Darstellung ist männlich geprägt, die Perspektiven von Frauen fehlen fast vollständig – und das auch in vielen anderen Bereichen. Aus dieser Lücke heraus gründen die Studentinnen eine Forschungsgruppe, um feministische Perspektiven und Frauengeschichte zu dokumentieren. Ein Jahr später folgt das Archiv, das später zur LIESELLE wird.

Ursprünglich als Frauenarchiv ins Leben gerufen und bezeichnet, entschied sich das Team 2023 für eine Umbenennung: Queer*Feministische Bibliothek und Archiv LIESELLE. Begüm K. erklärt: „Wir reflektieren regelmäßig, wen wir übersehen haben und wen wir einbeziehen müssen“. Auch Begüm hat an der Ruhr-Universität unter anderem Geschichte im Bachelor studiert und ist eine von aktuell fünf StudentInnen, die in der LIESELLE tätig sind. Mittlerweile studiert sie Arabistik und Islamwissenschaft sowie vergleichende Literaturwissenschaft im Master. Begüm betont: „Die LIESELLE geht mit den Diskursen mit – die Umbenennung war eine bewusste Entscheidung, um sich klar gegen trans-exklusive feministische Strömungen zu positionieren und queere Perspektiven sichtbarer zu machen.“

Eine künstlerische Arbeit aus dem Lateinamerika-Archiv (Foto: Lili Fox)

Ein bewegtes Archiv für bewegte Geschichte

Seit ihren Anfängen hat die Sammlung stetig an Umfang und Bedeutung zugenommen. Heute umfasst sie mehr als 11.000 Werke: historische Zeitschriften der autonomen Frauen*Lesbenbewegung, künstlerische Arbeiten, wissenschaftliche Arbeiten, Flugblätter, Veranstaltungsankündigungen und ein einzigartiges Lateinamerika-Archiv. Besonders bemerkenswert ist das FrauenLesbenRadio Funk’n Flug, eine digitalisierte Sammlung von 46 Audiokassetten aus den 1990er Jahren – ein akustisches Zeugnis der lesbischen Bewegung im Ruhrgebiet.

Einige Bestände sind besonders persönlich: Buchschenkungen stammen teilweise von Bekannten der Gründerinnen, die ihre eigenen Sammlungen an die LIESELLE weitergegeben haben. Für Begüm zeichnet diese Besonderheit die Dynamik der LIESELLE aus.

Ein Ort für Forschung, Aktivismus und Austausch

Die LIESELLE ist nicht nur Archiv, sondern auch ein politischer Raum, ein Ort für gelebte Bewegungsgeschichte und ein Spiegel der feministischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte. Wer sich mit queer*feministischen Themen beschäftigen will, findet hier nicht nur Bücher, sondern auch lebendige Geschichte und Menschen, die feministisches Wissen bewahren und weitertragen.

Kooperationen mit dem atelier automatique oder der Oval Office Bar des Schauspielhaus Bochum bringen Archivmaterial in Ausstellungen und öffentliche Veranstaltungen ein. „Es ist uns wichtig, dass unser Archiv nicht nur als Lager verstanden wird“, sagt Begüm, „Es soll genutzt werden“. Die ständige Weiterentwicklung der LIESELLE beinhaltet außerdem das Sammeln von aktuellen Forschungsarbeiten und Literatur, die der Thematik neue Perspektiven verleihen – so können beispielsweise auch Abschlussarbeiten von Student*innen zur Erweiterung beitragen.

Bibliotheksteil der LIESELLE (Foto: Lili Fox)

Zukunftspläne und Herausforderungen

Ein Problem bleibt die langfristige institutionelle und finanzielle Absicherung. Die LIESELLE wird als Projekt des AStA geführt – von StudentInnen, die oft nur einige Jahre dabei sein können. „Wissenstransfer ist eine ständige Herausforderung“, erzählt Begüm. Auch spiegelt sich diese Dynamik in den Öffnungszeiten der LIESELLE wider: Sie ändern sich jedes Semester, da sie an die Stundenpläne der StudentInnen angepasst werden, die hier arbeiten. In der vorlesungsfreien Zeit erfolgt der Zugang per Terminvergabe, damit die Bestände trotz reduzierter Ressourcen zugänglich bleiben.

Ein damit einhergehendes Ziel: mehr Digitalisierung – mehr Zugänglichkeit. Der Bestand ist nicht in klassische Bibliothekskataloge integriert, sondern über den META-Katalog des Dachverband deutschsprachiger Frauen / Lesbenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen (i.d.a. Dachverband) auffindbar.

Kategorisierungssystem der LIESELLE (Foto: Lili Fox)

„Unsere Archivierung unterscheidet sich von klassischen Kategorisierungssystemen“, so Begüm, „Wir setzen Schwerpunkte, die in klassischen Archiven oft untergehen“. Projekte zur Digitalisierung, etwa über das Digitale Deutsche Frauenarchiv (DDF), ermöglichen erste Schritte, doch ganzheitliche Lösungen fehlen bislang.

Mehr Digitalisierung des Archivs würde außerdem mehr Schutz für die physischen, teils einzigartigen Bestände bedeuten. Eine Herausforderung benennt Begüm klar: „Wie archiviert und digitalisiert man Materialien, die über klassische Bücher hinausgehen, etwa persönliche Notizen, handgeschriebene Kataloge oder künstlerische Arbeiten?“

Ein Ort, der Geschichten bewahrt – und weiterschreibt

Derzeit wird die LIESELLE hauptsächlich von StudentInnen und KünstlerInnen genutzt, aber sie steht allen offen. Für die Nutzung sind lediglich eine E-Mail-Adresse und ein Name zu hinterlegen. Die Kontaktaufnahme kann unkompliziert über Instagram oder die Website erfolgen. Die MitarbeiterInnen unterstützen zudem gerne bei der Literatursuche. Wer Material zu spezifischen queer*feministischen Themen benötigt, kann sich an sie wenden – sie helfen aktiv bei der Recherche in den Beständen.

Als Literaturempfehlung für EinsteigerInnen nennt Begüm „We Are Everywhere: Protest, Power, and Pride in the History of Queer Liberation“ sowie den neu erschienenen Sammelband „AktivistInnen im Archiv. Von den Anfängen der Frauenforschung bis zu queeren Interventionen“, herausgegeben von Katja Teichmann, die selbst seit 2014 in der Queer*Feministischen Bibliothek und Archiv LIESELLE engagiert ist. Ein Werk, das Einblicke in feministische Archivarbeit bietet und verdeutlicht, warum es Räume wie die LIESELLE auch in Zukunft braucht.

LINKS:

Quelle: Interview mit Begüm K.

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